Stragü 12/2019, Dr. Schärmer – „Ausflaggen“ – rechtsmissbräuchlich? EUGH prüft!

Ausgangslage

Grund für den gegenständlichen Rechtsstreit ist eine Entscheidung des Verwaltungsrats der niederländischen Sozialversicherungsanstalt (RSVB). In dieser Entscheidung stellte die RSVB fest, dass Fahrer einer in Zypern gegründeten Gesellschaft (AFMB), die durch Verträge mit niederländischen Unternehmen diesen zur Verfügung gestellt werden, nicht den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften Zyperns, sondern jenen der Niederlande unterliegen. Die zypriotische Gesellschaft rief in weiterer Folge das Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes der Niederlande an und dieses wandte sich wiederum an den EuGH und ersuchte insbesondere um Erläuterung der Frage, wer Arbeitgeber der Fahrer ist. Die in den Niederlanden ansässigen Transportunternehmen oder die zypriotische Gesellschaft? Das zypriotische Unternehmen ist der Auffassung, dass die Entscheidung unter anderem von der Auslegung der Unionsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit abhängt und somit in die Zuständigkeit des EuGH fällt.

Argumente der Parteien

Der RSVB ist der Ansicht, dass die niederländischen Transportunternehmen, die die ihnen für unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung stehenden Fahrer eingestellt haben, gegenüber den Fahrern die tatsächliche Weisungsbefugnis ausüben und faktisch die Lohnkosten zu tragen haben, für die Zwecke der Anwendung der Unionsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit als Arbeitgeber anzusehen sind. AFMB bestreitet dies und wendet ein, dass die mit den Fahrern geschlossenen Arbeitsverträge den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften Zyperns unterliegen, da in diesen Verträgen AFMB ausdrücklich als Arbeitgeber bezeichnet wird, auch wenn diese Fahrer gewöhnlich niederländischen Transportunternehmen zur Verfügung stehen, mit denen AFMB Flottenmanagementverträge geschlossen hat.

Vertragsbezeichnung als Arbeitgeber lediglich ein Anhaltspunkt

In seinen Schlussanträgen vom 26.11.2019 teilt der Generalanwalt die Auffassung, dass Arbeitgeber von abhängig beschäftigten Lastkraftwagenfahrern im internationalen Straßentransport jenes Transportunternehmen ist, das sie auf unbestimmte Zeit eingestellt hat, eine tatsächliche Weisungsbefugnis gegenüber ihnen ausübt und faktisch die Gehaltskosten zu tragen hat. Dem Generalanwalt zufolge ist das Ziel des europäischen Systems zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, die Arbeitnehmer, die innerhalb der Union zu- und abwandern, dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats zu unterstellen. Hierdurch soll verhindert werden, dass der sozialversicherungsrechtliche Schutz von in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallenden Personen entfällt, wenn auf sie keine Rechtsvorschriften anwendbar wären. Gemäß der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist der Sitz des Arbeitgebers ein Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des anwendbaren nationalen Rechts. Der Begriff „Arbeitgeber“ ist durch das Unionsrecht jedoch nicht definiert. Die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit weist zur Ermittlung des Sinns und der Bedeutung dieses Begriffs auch nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten. Der Generalanwalt stellte fest, dass die Vertragsbeziehung, nach der der AFMB formal betrachtet „Arbeitgeber“ der Fahrer wäre, lediglich einen Anhaltspunkt liefert, die Bestimmung des tatsächlichen Arbeitgebers jedoch einigen Voraussetzungen bedarf. Als Arbeitgeber von Lastkraftwagenfahrern im internationalen Straßentransport ist nämlich das Transportunternehmen anzusehen, das den Fahrer eingestellt hat, dem der Fahrer tatsächlich auf unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung steht, das eine tatsächliche Weisungsbefugnis gegenüber dem Fahrer ausübt und das faktisch die Gehaltskosten zu tragen hat. Das bloße Vorliegen eines Arbeitsvertrages mit der zypriotischen Gesellschaft, in dem diese als Arbeitgeber bezeichnet wird, reicht daher nicht für die tatsächliche Qualifizierung als Arbeitgeber aus.

Keine Entsendung

Weiters macht der Generalanwalt deutlich, dass es sich auch nicht um eine sogenannte „Entsendung“ handelt. Bei einer „Entsendung“ ist der Arbeitnehmer zwar in einem anderen Staat tätig, unterliegt jedoch den Vorschriften des Entsendestaates. Der Generalanwalt führte aus, dass die zypriotische Gesellschaft den in den Niederlanden ansässigen Unternehmen, Arbeitnehmer lediglich auf unbestimmte Zeit „zur Verfügung gestellt“ hat. Weiters beschränkte sich die Rolle der zypriotischen Gesellschaft lediglich auf die Zahlung der Löhne und Sozialbeiträge an die zyprische Behörde.

Rechtsmissbräuchliches Ausflaggen

Schließlich führte der Generalanwalt aus, dass die zypriotische Gesellschaft die Arbeitgebereigenschaft durch eine ausgeklügelte Konstruktion des Privatrechts erlangt hat. Die niederländischen Vertragspartner haben jedoch die tatsächliche Kontrolle gegenüber den Arbeitnehmern ausgeübt, was normalerweise unter die Befugnisse des Arbeitgebers im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses fällt. Die Berufung auf die Grundfreiheiten des Binnenmarkts, um sich in Zypern niederzulassen und von dort aus Dienstleistungen an niederländische Unternehmen zu erbringen, führt zu einer Verschlechterung des Sozialversicherungsschutzes der Fahrer, während die niederländischen Unternehmen daraus offenbar Vorteile bei den Gehaltskosten gezogen haben. Der Generalanwalt kommt somit zum Entschluss, dass ein Rechtsmissbrauch vorliege, der es AFMB verbietet, sich auf ihre angebliche Arbeitgebereigenschaft zu berufen, um beim RSVB zu beantragen, die zyprischen Rechtsvorschriften für auf die betroffenen Fahrer anwendbar zu erklären.

EUGH-Entscheidung abwarten, Auswirkungen

Zur Rolle des Generalanwaltes: Der Generalanwalt hat die Aufgabe einen Vorschlag für ein Urteil in der Form von begründeten Schlussanträgen zu stellen. Er setzt sich dabei mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH in ähnlichen Fällen auseinander und verwendet diese für die Beurteilung des vorliegenden Falls. Der EuGH ist an diese Vorschläge nicht gebunden, faktisch folgt er jedoch in den überwiegenden Fällen den Vorschlägen des Generalanwalts. Es bleibt somit die Entscheidung des EuGH abzuwarten. Folgt der EuGH der Rechtsmeinung des Generalanwaltes sind sehr viele „Ausflaggungen“ als rechtsmissbräuchlich einzustufen.

Zusammenfassung

*das bloße Vorliegen eines Arbeitsvertrages, in dem ein Unternehmen als Arbeitgeber bezeichnet wird, bildet lediglich einen Anhaltspunkt für die rechtliche Qualifikation als tatsächlicher Arbeitgeber.

*auch die Zahlung des Gehalts und der Sozialbeiträge bilden lediglich ein Indiz für die Qualifikation als Arbeitgeber.

*als Arbeitgeber von Lastkraftwagenfahrern im internationalen Straßentransport ist das Transportunternehmen anzusehen, das den Fahrer einstellt, die tatsächliche Weisungsbefugnis gegenüber dem Fahrer ausübt, die faktischen Gehaltskosten trägt und dem der Fahrer tatsächlich auf unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung steht.

*wenn ein Unternehmen nicht als Arbeitgeber eingestuft ist, kann auch nicht von einer „Entsendung“ ausgegangen werden, sondern liegt vielmehr eine „Zurverfügungstellung“ vor, die anderwärtige rechtliche Konsequenzen nach sich zieht.

*die Ausnutzung der europarechtlichen Grundfreiheiten des Binnenmarkts, die zu einer Verschlechterung des Sozialversicherungsschutzes der Fahrer führt und Vorteile für den Unternehmer schafft, ist als rechtsmissbräuchlich anzusehen.

*näheres siehe: Pressemitteilung des EuGH Nr. 146/2019 v. 26.11.2019

Stragü 12/19 – PDF